(c) Monica Lefèbre
„Eines geht nicht: nach den rassistischen Morden von Hanau zur Tagesordnung zurückzukehren. Auf dem Spiel stehen nicht nur die Menschlichkeit und Sicherheit in unserem Land, sondern auch unser gesellschaftlicher Zusammenhalt und unsere liberale Demokratie.“
(Pindur, 22.02.2020)
Ohne auf die schreckliche und rassistische Tat des rechtsextremen Täters näher eingehen zu wollen, wird erwähnt, dass ‚unsere liberale Demokratie‘ nicht nur nichts gegen Rassismus (und andere Formen von Diskriminierung) einlenken wird/kann, nein sie legitimiert den Boden, aus dem er sich nährt. Denn auch die Entwicklung der liberalen Demokratie wies sowohl imperiale als auch koloniale Voraussetzungen auf (Brown 2015: 44; Fraser 1997/2001: 119).
Zum Verständnis und zur Einführung in die liberale Demokratietheorie werden das Menschenbild, der Staat und die vier demokratischen Dispositive – Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Volkssouveränität – veranschaulicht. Dafür wird das liberale Standardmodell von Schumpeter herangezogen, da dieses als ausschlaggebendes Konzept für eine liberale Demokratie gilt. Anhand der Begriffsdefinitionen soll eine kritisch-feministische Auseinandersetzung stattfinden, sowie ein (ernüchterndes) Fazit präsentiert werden.
Menschenbild und Staat
Um auf das Menschenbild im Liberalismus näher eingehen zu können, muss in erster Linie ein politischer Rahmen, in Form eines Staates, gegeben sein, um individuelle Rechte, welche als Abwehrrechte definiert werden, zu garantieren.
Die primäre Aufgabe des Staates besteht darin, den Schutz der Rechte jedes Individuums und die Freiheit des (wirtschaftlichen) Handelns zu sichern. Erst durch die Sicherung dieser Rechte wird der Staat legitimiert.
Dadurch stehen dem Menschen aufgrund seines Menschseins bestimmte Rechte zu, welche nicht zur (politischen) Diskussion stehen – zum Beispiel die (naturrechtliche oder vernunftrechtliche) Begründung der Menschenrechte.
Aufgrund dessen, dass der Fokus auf das Individuum und deren Recht auf Abwehr liegt, treten sich Personen in einem liberalen Staat als Rechtspersonen gegenüber und nicht als Bürger*innen. Durch die Ausrichtung der Freiheit des (ökonomischen) Handelns ist der Mensch, als Einzelwesen, darauf aus selbstoptimierend, nutzungsmaximierend und kostenminimierend zu agieren. Das Menschenbild wird hier an den homo oeconomicus zugeschnitten, welcher selbst Tugendhaftigkeit, sowie moralische Qualitäten nicht als notwendig erachten. Darauf aufbauend wird außerdem davon ausgegangen, dass jedes Individuum rational im Sinne seiner Weiterentwicklung entscheiden würde. Dem Gedanken an das (gesellschaftliche) Gemeinwohl wird kaum bis gar nicht Raum gegeben, da das Selbst im Zentrum steht.
Ebenfalls verzichtet die rechtliche Reglementierung bewusst auf eine Werteüberzeugung, da diese als private Gesinnung angesehen wird. Somit wird diese aus dem Bereich der Öffentlichkeit verbannt und in die Privatheit transferiert. Sprich es gibt eine klare Sphärentrennung zwischen dem Öffentlichen und Privaten.
Allerdings wird zur Wahrung des Traditionalismus (in der Politik) aufgerufen. „Der Schutz dieses Traditionalismus ist in der Tat einer der Zwecke, für den Spielregeln des parlamentarischen Verfahrens und der parlamentarischen Etikette existieren.“ (Schumpeter 1942/2005: 468). Dies wiederum bedeutet, dass ein individuelles und rationales Handeln nur im Rahmen des Traditionalismus, sprich einer bestimmten Überzeugung oder Glaubensvorstellung existiert.
Ein weiteres Paradoxon des liberalen Staates, ist seine Legitimation durch die Funktionalität der Sicherung von Rechtssubjekten und der Sicherung von Rechtsverhältnissen. Dafür braucht es starke staatliche Instanzen, um solche Rechte durchsetzen zu können, was wiederum ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte ist, da der Staat Rechte garantiert, welche er jederzeit aufheben kann.
Demokratische Dispositive
Der Begriff Demokratie ist aus den griechischen Wörtern demos und kratos zusammengesetzt. Übersetzt bedeutet demos Volk und kratos Herrschaft – sprich die Herrschaft des Volkes. Schumpeter steht dieser Ansicht -der, dass Demokratie die Herrschaft des Volkes bedeute- kritisch gegenüber. Seiner Auffassung nach dient das Volk nur zur Akzeptierung oder Ablehnung der herrschenden Männer. Die politische Partizipation wird ausschließlich auf den Wahlakt reduziert.
„Erstens einmal bedeutet Demokratie unter unserem Gesichtspunkt – und kann es auch nicht bedeuten –, daß das Volk tatsächlich herrscht, jedenfalls nicht im üblichen Sinne der Begriffe ‹Volk› und ‹herrschen›. Demokratie bedeutet nur, daß das Volk die Möglichkeit hat, die Männer, die es beherrschen sollen, zu akzeptieren oder abzulehnen. […], eines weiteren Kriteriums zur Identifizierung der demokratischen Methode, nämlich des freien Wettbewerbs zwischen den Führungsanwärtern um die Stimmen der Wählerschaft. […] die Demokratie ist die Herrschaft des Politikers.“
Schumpeter 1942/2005: 452
Das Verständnis von Solidarität orientiert sich an Konkurrenzsituationen des Marktes, der individuelle Verantwortung und Interessenvertretung. Im oben angeführtem Zitat Schumpeters wird als weiteres Kriterium der freie Wettbewerb zwischen den Führungsanwärter(*innen) um die Stimmen der Wähler*innenschaft angeführt. Dies impliziert, dass die (männlichen) Repräsentant*innen nicht dem Wähler*innenwillen eine Stimme geben, sondern dass die aufgestellten Männer im Konkurrenzkampf versuchen die Stimmen des Volkes zu erwerben. Das Volk soll die Demokratie nur billigen.
Somit orientiert sich die Demokratie an den Gesetzen des kapitalistischen Marktes – sprich „freie Konkurrenz um freie Stimmen“ (ebd.: 430). Dabei geht es um die Gewinnmaximierung von Wähler*innenstimmen, um den Willen der Mehrheit und nicht den Willen des Volkes zu repräsentieren.
Dies hat zur Folge, dass die Volksouveränität nur auf den Wahlakt minimiert wird und ausschließlich am Wahltag zum Vorschein kommt. Das Volk dient als „Mittel zum Zweck“. Dabei diene die Elitenauswahl (bestpräsentiertesten Politiker*innen) als Zweck dahinter.
Nicht das Gemeinwohl wird thematisiert, sondern bloß das politische, männliche Angebot (vgl. ebd.: 455, 458-462). Nur bei Wahlen tritt das Volk sichtbar in die Öffentlichkeit, um danach wieder in die Privatheit zu verschwinden.
Anhand der vorherigen Veranschaulichung (siehe Menschenbild und Staat) wird Gleichheit, als formale Gleichheit der Rechtspersonen gesehen. Aufgrund dessen wird von einem negativen Freiheitsverständnis ausgegangen. Negative Freiheit, auch bezeichnet als Freiheit „von“ etwas, definiert die Freiheit als natürliches Recht. Sie wird als Abwehrrecht gegen den Staat verstanden, welche dem Staat bei einer immer größeren Ausdehnung der Regierungstätigkeit im Weg steht. Negative Freiheit wehrt sich gegen eine zu große Einflussnahme der Regierung (vgl. Schumann, 15.01.2019).
„[…] für einen Erfolg der Demokratie ist, daß der wirksame Bereich politischer Entscheidungen nicht allzu weit ausgedehnt wird.“, später folgt: „Um aber richtig zu funktionieren, muß sich dieses allmächtige Parlament selbst gewisse Einschränkungen auferlegen,[…].“
Schumpeter 1942/2005: 163
Auch die Positionierung zur Sphäre des Öffentlichen und Privaten macht klar, dass auch hier der Staat die Grenze zwischen dem Volk (Privat) und der Politik (Öffentlich) ziehen möchte. Denn Demokratie -im liberalen Sinne- impliziert nicht, dass jede Funktion des Staates ihrer politischen Methode unterstehen muss (vgl. ebd.: 164). Diese Sichtweise könnte man mit der liberalen Marktwirtschaft vergleichen, da diese darauf vertraut, dass der Markt sich selbst regulieren wird und staatliches Eingreifen irrelevant sei – der freie Wettbewerb muss gegeben sein.
Kritische Auseinandersetzung und Fazit
Bei der Darstellung des liberalen Demokratieverständnisses wird die Logik der (gesellschaftlichen und politischen) Konkurrenz ersichtlich (Czerwick 2008: 35). Die liberale Demokratietheorie argumentiert, dass durch die formale Rechtsgleichheit automatisch eine soziale/gesellschaftliche Gleichstellung stattfinden würde. Allerdings kann dies nicht gelingen, da das Fundament der liberalen Demokratie auf imperialen und kolonialen Vorbedingungen aufgebaut ist (Brown 2015: 44; Fraser 1997/2001: 119).
„Wir können nicht länger davon ausgehen, daß das liberale Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit lediglich ein unverwirklichtes utopisches Ideal darstellte. Es entsprach auch einer ideologischen Vorstellung, die die Aufgabe hatte, eine aufstrebende Form der Klassenherrschaft (und Rassenherrschaft) zu legitimieren.“
Fraser 1997/2001: 119
Dies hat zur Folge, dass klassistische, rassistische und sexistische Strukturen institutionell gefestigt und wesentliche substanzielle Ungleichheiten reproduziert werden und es somit zu keiner Chancengleichheit komme (Pateman 1988: 11).
Auch die strikte Sphärentrennung von Öffentlichkeit und Privatheit stärkt Diskriminierungsmechanismen, da bestimmte Charakterisierungen beiden Orten zugesprochen werden. Schumpeter besetzt die Öffentlichkeit mit den mächtigen Männern, welche den Konkurrenzkampf gewinnen konnten und durch ihren Egoismus politisches Fehlverhalten entschuldigen können (1942/2005: 458).
Hingegen wird das Private kaum beschrieben und könnte nur auf die juristische Gleichheit minimiert werden. Aufgrund der historischen Entwicklung (des Liberalismus) könnte Privatheit als ein Ort verstanden werden, in dem untergeordnete Gruppen (strukturell) benachteiligt werden. Die Öffentlichkeit (Politik) möchte nicht in diesen Bereich eingreifen, da sie den Wettbewerb wahren wolle und auch weil sie womöglich von dieser substanziellen Ungleichheit profitiere (Fraser 1997/2001: 141).
Auch die Anpassung des Menschenbildes an den homo oeconomicus, welcher scheinbar geschlechtslos wäre, erweist sich bei näherer Betrachtung als Fiktion.
„Die ihm zugeschriebenen Eigenschaften wie egoistisch, nutzenmaximierend, rational, autonom und objektiv werden – zumindest im westlichen Sprachgebrauch – landläufig assoziiert als männliche Eigenschaften. Im Gegensatz dazu steht für das ‚Weibliche‘ eher altruistisch, emotional, affirmativ, gebunden an andere, subjektiv. […] Dieses androzentrische Menschenbild bildet den Kern der herrschenden Theorie.“
Maier 1993: 558
Des Weiteren könnte argumentiert werden, dass durch die gesellschaftliche und politische Orientierung an den kapitalistischen Markt, das liberale Demokratiemodell von patriarchalen Strukturen profitiert, da es ein wechselseitiges Verhältnis von Patriarchat und Kapitalismus gibt, welches gegenseitige Herrschaftssicherung von Staat (männlich dominierte staatliche Institutionen) und Ökonomie (männliche Wirtschaftssubjekte) generiere (Mies, 16.07.2003).
Somit sind Öffentlichkeit und Privatheit voneinander abhängig, untrennbar und verschmelzen ineinander. Diese Auffassung ist nicht nur im feministischen Sinne zu denken, sondern auch mit dem Fokus auf das Gemeinwohl essenziell, was wiederum die Wichtigkeit der feministischen Perspektive aufzeigt.
Denn das Private ist politisch und das Politische ist öffentlich (Lang 2004).
Am Ende wird nun das ernüchternde Fazit präsentiert, welches in der Einleitung versprochen wurde. Es handelt sich dabei um ein Zitat von Wendy Brown, aus ihrem Werk Undoing the Demos: Neoliberalism’s Stealth Revolution (2015).
„Liberal democracy has featured both imperial and colonial premises. It has secured private property and thus the propertyless, facilitated capital accumulation and thus mass exploitation, and presumed and entrenched privileges for a bourgeois white heterosexual male subject. All of this is common knowledge.
However, for several centuries, liberal democracy has also carried — or monopolized, depending on your view — the language and promise of inclusive and shared political equality, freedom, and popular sovereignty. What happens when this language disappears or is perverted to signify democracy’s opposite? What happens to the aspiration for popular sovereignty when the demos is discursively disintegrated? How do subjects reduced to human capital reach for or even wish for popular power?“
Brown 2015: 44-45
Literaturverzeichnis
Brown, Wendy (2015): Undoing the Demos. Neoliberalism’s Stealth Revolution. New York: Zone Books 2015, 17-45.
Czerwick, Erwin (2008): Systemtheorie der Demokratie. Begriffe und Strukturen im Werk Luhmanns. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; S. 29-37.
Fraser, Nancy (1997/2001): Neue Überlegungen zur Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Kritik der real existierenden Demokratie. In: dies.: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 107-150.
Lang, Sabine (2004): Politik-Öffentlichkeit-Privatheit. In: Sieglinde Rosenberger, Birgit Sauer: Politikwissenschaft und Geschlecht: Konzepte, Verknüpfungen, Perspektiven. Wien: Facultas – WUV, 65-84.
Maier, Friederike (1993): Homo Oeconomicus – Zur geschlechtsspezifischen Konstruktion der Wirtschaftswissenschaften. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Vol.23(93), 551-571.
Mies, Maria (16.07.2003): Frauen im globalisierten Kapitalismus. In: Sonderbeilage der Jungen Welt „feminism & gender“.
Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract. Stanford: California University Press 1988; S. 1-18.
Pindur, Marcus (22.02.2020): Auf dem Spiel stehen Menschlichkeit und Demokratie. Deutschlandfunk. URL: https://www.deutschlandfunk.de/nach-hanau-auf-dem-spiel-stehen-menschlichkeit-und.720.de.html?dram:article_id=470895 (letzter Zugriff: 23.02.2020).
Schumann, Jenny Joy (15.01.2019): Negative und positive Freiheit. Freiheitslexikon. PROMETHEUS – Das Freiheitsinstitut gGmbH. URL: https://freiheitslexikon.de/negative-und-positive-freiheit/ (letzter Zugriff: 23.02.2020).
Schumpeter, Joseph A. (1942/2005): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen/Basel: Francke; 8. Auflage; S. 451-470.
Rada Pantelic ist Teilnehmerin des 12. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.