Immer wieder hört man von langen Wartezeiten bei Fachärzt:innen, überfüllten Spitalsambulanzen und unter dem Andrang stöhnenden Personal, dass Patient:innen sich doch im niedergelassenen Bereich behandeln lassen sollen. Weiters steigt bei einer alternden Gesellschaft der Bedarf an ärztlicher Betreuung und es besteht eine zunehmende Unterversorgung im ländlichen Raum, die sich durch eine anstehende Pensionierungswelle bei Hausärzt:innen zu verschlimmern droht. Dennoch schneidet das österreichische Gesundheitssystem im internationalen Vergleich laut Studien gut ab, in der bis heute relevantesten Studie befindet sich Österreich auf Platz 9 der Welt (Tandon 2001). Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch auf, dass erhebliche Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung bestehen. In diesem Artikel möchte ich eine Übersicht der Krankenversicherungssituation in Österreich geben und analysieren, ob wir tatsächlich unter einer Zwei-Klassen-Medizin leiden.
Welche Möglichkeiten der Krankenversicherung gibt es in Österreich?
In Österreich sind 99,6 Prozent der Wohnbevölkerung von der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst. Die österreichische Sozialversicherung, und somit auch die Krankenversicherung, ist berufsständisch organisiert. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Träger hängt also von der ausgeübten Tätigkeit, oder von der Tätigkeit der:s Mitversichernden, ab. Bei der Strukturreform der Sozialversicherungen am 1.1.2020 wurden 21 Sozialversicherungsträger auf nur mehr 5 zusammengeführt, um Effizienz und Organisation zu verbessern.
Seither gibt es:
1. Die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) für unselbstständig Erwerbstätige
2. Die Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB)
3. Die Sozialversicherungsanstalt für Selbstständige (SVS), bei der auch selbstständig Erwerbstätige im Bereich der Land- und Forstwirtschaft versichert sind
4. AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt)
5. PVA (Pensionsversicherungsanstalt)
Die KFA (Krankenfürsorgeanstalt, zum Beispiel für Bedienstete der Stadt Wien) bleibt von der Sozialversicherungsreform unberührt und als einzelne Kassa bestehen.
Die Pflichtversicherungen garantieren die erforderlichen medizinischen Behandlungen. Die Arbeitgebenden haben die Verpflichtung, die Arbeitnehmenden vor Antritt der Beschäftigung beim zuständigen Versicherungsträger anzumelden und die festgelegten Beitragssätze einzuzahlen. Sie sind berechtigt, die Sozialversicherungsbeiträge vom Gehalt der Arbeitnehmenden abzuziehen. Von Selbstversicherten wird der Beitrag zur Gänze selbst getragen (Sozialministerium 2021).
Private Zusatzversicherungen können bei verschiedenen Versicherungsunternehmen abgeschlossen werden. Diese bieten Zusatzleistungen für mehr Komfort, wie Einzelbettzimmer (Sonderklasse-Versicherung) oder auch Polizzen, die Wahlärzt:innenhonorare, Zusatzkosten zum Beispiel bei Zahnärzt:innenbesuchen oder Kosten für Kuren übernehmen. Die Preisspanne bewegt sich, abhängig von Alter und Versicherungsschutz, zwischen etwa 25€ und 200€ monatlich.
Zwar gab es in Österreich am 1.1.2020 eine Zusammenlegung der Krankenkassen, warum die KFA mit 200 000 Versicherten etwa nicht mit der BVAEB zusammengelegt wurde, bleibt umstritten. Es wurde kritisiert, dass es sich um eine „Luxuskassa“ handelt, bei der aufgrund hoher Beitragssätze von gut Verdienenden mit wenig Arbeitslosenperioden mehr Geld pro versicherter Person zur Verfügung steht. Letzteres ist ein Beispiel dafür, dass Zwei-Klassen-Medizin bereits bei gesetzlichen Versicherungen beginnt (Ettinger 2020).
Vorteile durch Privatversicherungen
Aufgrund langer Wartezeiten bei Kassenärzt:innen schließen immer mehr Österreicher:innen Zusatzversicherungen ab. Dabei geht es weniger um die Sonderklassenvorteile, es steht die Kostenübernahme bei Wahlärzt:innen im Vordergrund. 2019 waren 3,1 Millionen Österreicher:innen zusatzversichert. In einer Umfrage der Wiener Städtischen zeigten sich die freie Ärzt:innenwahl, schnellere Termine bzw. kurze Wartezeiten und die Kostenübernahme als die wichtigsten Punkte für eine Zusatzversicherung (Pfluger 2019).
Laut Austria Presse Agentur (APA) hat sich die Zahl der Wahlärzt:innen in den letzten 20 Jahren verdoppelt, 130 Kassenstellen bundesweit waren zum Analysezeitpunkt 2018 unbesetzt, während die Zahl der Kassenärzt:innen heute die Selbe ist wie vor 20 Jahren. Neben den rund 8.000 Kassenärzt:innen gibt es in Österreich an die 10.000 Wahlärzt:innen (APA/ÖÄK 2018). Das macht es Patient:innen schwer Termine zu bekommen, denn viele können oder wollen Wahlärzt:innentarife nicht bezahlen. Die staatlichen Krankenkassen refundieren lediglich einen Teil dieser Honorare (rund 80% des Betrags, den die Kasse bei Inanspruchnahme eines Vertragsbehandlers für dieselbe Leistung gezahlt hätte). Sofern man eine hat, kommt für den Rest die private Krankenversicherung auf.
Laut Wiener Städtischen wissen Patient:innen in Zeiten des Internets immer besser über ihre Erkrankungen Bescheid und wollen selbst bei der Behandlung mitbestimmen. Hier werden die Vorgaben des staatlichen Gesundheitswesens manchmal eher als Beschränkung wahrgenommen, anstatt als Hilfestellung. Durch die freie Ärzt:innenwahl, die viele Zusatzversicherungen anbieten, gehen Patient:innen mit ihren Beschwerden oft direkt zu Spezialist:innen (Pfluger 2019.) Dadurch wird die oft unterbewertete Primärversorgung umgangen – ebenso ihre wegweisende Rolle. Nicht selten kommt es zu Fehldiagnosen oder unnötigen Interventionen durch „Fachidiotie“ der Spezialist:innen (Loewit 2019). Auf der anderen Seite bekommen Patient:innen mit tatsächlichen Überweisungen zu Spezialist:innen keine zeitnahen Termine zur weiteren Abklärung ihrer Erkrankungen. Bei Krebsdiagnosen kann eine Zeitverzögerung den Unterschied zwischen heilbar oder nicht heilbar bedeuten, in jedem Fall bedeutet die Wartezeit eine Verlängerung des Leidensdruckes.
Es ist schwierig, Studien zu finden, die objektiv die Behandlungsqualität von privat- und gesetzlich Versicherten vergleichen. Eine Studie zu Wartezeiten auf elektive (planbare, nicht dringende) Operationen in Österreich kann als Anhaltspunkt dienen. Wartezeiten sind belastend für Patient:innen und mit einer Verschlechterung der Lebensqualität verbunden. Zwar bessert sich die Transparenzlage von Wartezeiten in Österreich, doch die Studie ergab, dass durch private Zahlungen Wartezeiten weiterhin oft erheblich verkürzt werden können (Czypionka 2020). Auch Wartezeiten auf bildgebende Verfahren, die entscheidend zur Diagnosefindung und Therapieplanung sind, können durch private Zahlungen verkürzt werden (orf.at, 2015). Ein weiterer Indikator für die bevorzugte und aufwändigere Behandlung von Zusatzversicherten ist die durchschnittliche Liegedauer im Krankenhaus. Im Leistungsbericht der Kärntner Spitalsgesellschaft lagen 2019 normal Versicherte durchschnittlich 5,7 Tage im Spital. Privat Versicherte residierten durchschnittlich 6,6 Tage im Krankenhaus (KABEG 2020).
Gesundheit auf dem Markt
In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 wird das Recht auf Gesundheit und ärztliche Versorgung angeführt. Privatverischerungen häufen also mit einem Thema, das am Markt eigentlich nichts verloren hat, hohe Gewinne an. Lorenzoni illustriert die fatalen Folgen dieser Entwicklung am Beispiel der USA: Sie haben die höchsten Kosten und, da in den USA Krankenversicherungen überwiegend privat sind, den höchsten Gewinn in der Branche weltweit. Mit Gesundheitsausgaben von 17% des Bruttoinlandprodukts (BIPs) sind die USA Spitzenreiter, der Durchschnitt der OECD-Länder liegt bei 8,8%. Trotz der hohen Ausgaben, vor allem aufgrund explodierender Preise für Gesundheitsleistungen, haben die USA eine geringe – und in den letzten Jahren fallende – Lebenserwartung verglichen mit anderen Industriestaaten (Lorenzoni 2014). In Österreich betragen die Gesundheitskosten 10,4% des BIP, wovon stetig seit 1990 etwa 75% öffentliche Gesundheitsausgaben ausmachen. Damit liegt Österreich über dem OECD-Schnitt von rund 70% öffentlicher Gesundheitsausgaben (Statistik Austria 2020 & OECD 2020).
Vergleicht man unter Berücksichtigung der Inflation (Faktor 232%) die Gesamtbruttoprämien aller Zusatzversicherungen im Gesundheitsbereich in Österreich aus dem Jahr 1980 mit denen aus dem Jahr 2013, sind die Einnahmen auf 150% gestiegen (Von 433 auf 1821 Mio. Euro). 1990 betrugen die Ausgaben für Versicherungsleistungen 304 Mio. Euro, das entspricht 70% des Gewinns. 2013 waren es 1184 Mio. Euro, entsprechend 65% des Gewinns und einem Nettogewinnzuwachs von 17% (Statistik Austria 2015). Aus diesen Berechnungen wird ersichtlich, dass Gesundheit auch in Österreich für Versicherungen ein lohnendes Geschäft ist.
Keine Krankenversicherung?
2020 waren 27.000 in Österreich gemeldete Menschen nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst, was etwa 0,3% der Bevölkerung entspricht. Das ist zwar eine relativ kleine Zahl, doch es kommt dadurch täglich zu erschütternden Situationen, in denen Menschen in Not nicht die medizinische Behandlung erhalten können, die sie dringend bräuchten. Außerdem sind in dieser Statistik nur in Österreich gemeldete Menschen erfasst, die überwiegende Zahl der nicht Versicherten, aber in Österreich Lebenden ist nicht in Österreich gemeldet. Schätzungen gehen von 100.000 Betroffenen aus (Amber-Med 2016).
Laut einer Studie der Österreichischen Sozialversicherung aus dem Jahr 2018 sind die Gründe nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst zu sein bei österreichischen Staatsbürger:innen außergewöhnliche Statusübergänge, fehlende persönliche Ressourcen, mangelnde Information und Lücken im System. Diese Lücken können auftreten, wenn Auslandsösterreicher:innen nach längerer Zeit wieder zurückkehren, oder wenn auf die Zuerkennung einer Leistung (wie die Mindestsicherung) gewartet wird. Bei Migrant:innen ohne Versicherungsschutz handelt es sich um geringfügig oder nicht Erwerbstätige, oder Personen ohne legalem Einkommen, die weniger als 5 Jahre in Österreich leben. Ein weiterer Teil sind Migrant:innen, die noch keinen Anspruch auf Mindestsicherung oder AMS-Leistungen und die bei diesen Leistungen inkludierte Krankenversicherung haben (Fuchs 2018).
Schlussfolgerung – Was tun?
Im Großen und Ganzen können wir uns glücklich schätzen, in einem Land zu leben in dem die gesetzliche Krankenversicherung beinahe die gesamte Bevölkerung versichert und medizinische Hilfe in ausreichendem Maß garantiert. Diese, im internationalen Vergleich überdurchschnittlichen Zustände, sind dem gut ausgebauten Sozialstaat durch Maßnahmen der staatlichen Sozialpolitik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verdanken.
Der Trend bewegt sich aktuell jedoch in die entgegengesetzte Richtung – hin zu mehr Angebot bei privat verrechneten Gesundheitsleistungen. Zugänglichkeit, Kostendeckelung und Qualität der Krankenbehandlung stehen am Spiel. Als mögliche Folge droht, dass es künftig nur noch eine Art Grundversorgung für gesetzlich Krankenversicherte geben könnte. Alles darüber Hinausgehende wird zunehmend privat bezahlt werden müssen. Folglich kommt es zu einem Auseinanderdriften und einer immer stärker sichtbar werdenden Zwei-Klassen-Medizin (Rainer 2017).
Ich bin überzeugt, dass der Schlüssel das Angebot einer gut organisierten – und auch für Gesundheitspersonal attraktiven – öffentlichen Versorgung ist. Dazu gehört auf der einen Seite die Primärversorgung mit Spitalsambulanzen, niedergelassenen Allgemeinmediziner:innen, sowie Allgemeinmedizinische Akut-Ordinationen mit erweiterten Öffnungszeiten. Funktioniert die Primärversorgung gut, kann durch zeitnahe Hilfe und adäquate Zuweisungen zu Fachärzt:innen eine gute Behandlung erfolgen. Damit diese auch gewährleistet werden kann, gehören dazu jedoch ausreichend öffentlich finanzierte Kapazitäten bei Spezialist:innen. Derzeit sind diese Weiterbetreuungsmöglichkeiten von chronisch Kranken über die Krankenkassen nicht ausreichend vorhanden. Da die Betroffenen aber weiterhin Beschwerden haben, tauchen sie immer und immer wieder in der Primärversorgung auf. So entstehen hohe Kosten und ein großer Arbeitsaufwand – leider oft umsonst. Die Versorgungskette kann nur sinnvoll funktionieren, wenn eine zeitnahe Weiterbehandlung auch ohne Zusatzversicherung möglich ist.
Lydia Zapusek
Literaturverzeichnis
Tandon, Ajay/Christopher JL Murray /Jeremy A Laurer/David B Evans (2001): Measuring overall Health System Performance for 191 Countries. Abrufdatum: 13.06.2021, von: https://www.who.int/healthinfo/paper30.pdf
Amber-Med (2016): Jahresbericht 2015.
APA/ÖÄK (2018): Niedergelassene Ärzte in Österreich. Abrufdatum: 11.03.2021, von: https://www.nachrichten.at/storage/med/download/288157_POL_A776rzte_in_O776.pdf
Czypionka, Thomas/Markus Kraus/Sophie Fößleitner/ Barbara Stacherl (2020): Wartezeiten auf elektive Operationen – Beschreibung der aktuellen Lage in Österreich. Abrufdatum: 11.03.2021, von https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5255/1/hsw-health-system-watch-I-2020-wartezeiten-czypionka-kraus-foessleitner-stacherl.pdf
Ettinger, Karl (2020): Kein Licht ins Dunkel der “Luxuskrankenkassen”. Abrufdatum: 11.03.2021, von: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2053053-Kasse-fuer-37-Versicherte-und-Licht-ins-Dunkel-der-Luxusmodelle.html
Fuchs, Michael (2018): Nicht-krankenversicherte Personen in Österreich – empirische Erkenntnisse – Kurzfassung. Abrufdatum: 12.02.2021, von: https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/?contentid=10007.845161&portal=svportal
Kärntner Landeskrankenanstalten-Betriebsgesellschaft – KABEG (2020): Bericht der KABEG über das Geschäftsjahr 2019. Abrufdatum: 11.03.2021, von: http://www.kabeg.at/fileadmin/user_upload/kabegmanagement/Presse/Bericht2019_web.pdf
Loewit, Günter (2019): 7 Milliarden für nichts – Ein Landarzt rechnet mit dem Gesundhietssystem ab, 1. Aufl., Wien: edition a.
Lorenzoni, Luca/Annalisa Belloni/Franco Sassi (2014): Health-care expenditure and health policy in the USA versus other high-spending OECD countries. Lancet 384, 83–92. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(14)60571-7
OECD (2020): Public funding of health care. Abrufdatum: 11.03.2021, von: https://www.oecd.org/health/Public-funding-of-health-care-Brief-2020.pdf
Orf.at (2015): Zweiklassenmedizin bei CT und MRT. Abrufdatum: 11.03.2021, von: https://noe.orf.at/v2/news/stories/2733306/.
Pfluger, Bettina (2019): Bereits 3,1 Millionen Österreicher sind zusatzversichert. Abrufdatum: 12.03.2021 von https://www.derstandard.at/story/2000109556646/bereits-3-1-millionen-oesterreicher-sind-zusatzversichert
Rainer, Gernot (2017): Kampf der Klassenmedizin: warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen, 1. Aufl., Wien: Brandstätter
Sozialministerium (2021): Krankenversicherung. Abrufdatum: 11.03.2021, von https://www.sozialministerium.at/Themen/Soziales/Sozialversicherung/Krankenversicherung.html
Statistik Austria (2020): Gesundheitsausgaben in Österreich laut System of Health Accounts (SHA) – Schnellschätzung 2019. Abrufdatum: 11.03.2021, von https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/gesundheit/gesundheitsausgaben/055358.html
Statistik Austria (2015): Private Versicherungswirtschaft. Abrufdatum: 11.03.2021, von https://www.statistik.at/web_de/static/k31_054430.pd
Lydia Zapusek war Teilnehmerin des 13. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.