Die Arbeitslosen von Marienthal

Beim ersten Tutorium der Wirtschaftspolitischen Akademie widmeten wir uns dem Thema „Arbeitslosigkeit“. Ein Blick in die Wiener Vergangenheit und die erste soziologische Studie über diese Thematik brachte Einsichten in die psychischen und sozialen Komponenten von Beschäftigungslosigkeit.

„Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts muß mehr schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen.“

Martin Heidegger schreibt in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ unter anderem von der Fruchtbarkeit der Langeweile, als Grundzustand der Ideenschöpfung und als Befreiung des Ich von den Fesseln der Öffentlichkeit. Das Heraustreten aus der Geschäftigkeit und dem Miteinander „bringt den Menschen vor sich selbst“.

In Marienthal gibt es zur Langeweile allerdings kein Gegenstück. Jede Form der Beschäftigung leidet unter dem perzipiertem Mangel einer sinnstiftenden Tätigkeit. Der Mensch ergibt sich in die ermüdende Sinnlosigkeit des Seins und bleibt dabei als Gelähmter zurück.

„Man lebt von Tag zu Tag dahin und weiß nicht warum.“ Der berühmte Ausspruch eines Teilnehmers der Marienthalstudie führt eindrucksvoll vor Augen, wie wenig Bezug die Arbeitslosen von Marienthal im Angesicht ihrer eigenen Perspektivenlosigkeit zum Zweck ihrer Existenz hatten.

Anders als uns unser heutiger, durchaus negativer Arbeitsbegriff vielleicht vermuten ließe, verleitet diese soziologische Studie stark zur Annahme, dass die vollkommene Abwesenheit von Arbeit keinen persönlichen Mehrwert liefern kann.

Dieser Zustand des Nichtstuns birgt nach den Erkenntnissen von Marie Jahoda und ihrem Forscherteam keinerlei revolutionäre, aufbegehrende, kreative Kraft, sondern lediglich einen Rückzug des Menschen in die Bewegungslosigkeit.

Angesichts dieser Betrachtungen wäre ein neues Verständnis von Arbeit-nämlich nicht als Unterdrückung unserer wahren Menschlichkeit- sondern als Sinnstiftung für unser Leben und Agieren wohl durchaus anzudenken.

Raphaela Tiefenbacher
ist Studentin der Rechtswissenschaften und der Philosophie an der Uni Wien. In ihrer Heimatstadt Innsbruck beschäftigte sie sich mit Schüler_innenpolitik und war im Rahmen ihrer Schulsprecher_innentätigkeit auch an Projekten wie der „Plattform für politische Bildung“ und der „Klimainitiative“ beteiligt. Sie ist aktuell Teilnehmerin des 6. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.

Beitrag veröffentlicht

in

,

von