Finanzialisierung und die Rolle von Nationalstaaten

Die Finanzialisierung unserer Wirtschaft welche Anfang der 1970er Jahre losging hat die Rolle von Nationalstaaten stark verändert. Oder waren es sich verändernde Nationalstaaten, welche zur Finanzialisierung der Wirtschaft geführt haben und so die Real- und Finanzwirtschaft auseinanderdriften ließen?

Aber was ist eigentlich diese „Finanzialisierung“? Ronald Dore liefert eine passende Definition: Bei der Finanzialisierung spricht man von der wachsenden Rolle von finanziellen Motiven, Finanzmärkten, finanziellen Akteuren und Institutionen im Verhältnis zu nationalen und internationalen Wirtschaften (Dore, 2008, S. 1097f). Kurz: Eine Machtverschiebung von der Realwirtschaft zugunsten des Finanzsektors.

Ein Beispiel für die Finanzialisierung ist die Deregulierung und Globalisierung der Finanzmärkte.

Bis Anfang der 1970er Jahre nahmen Nationalstaaten eine sehr aktive Rolle in der Wirtschaft ein. Staaten setzten gezielt auf antizyklische Konjunktur und Währungspolitik um konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Die Leitziele der Wirtschaftspolitik waren Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung (Guger et al., 2006, S.4). Allerdings passten stark ansteigende Preise aufgrund der Ölpreisschocks und stagnierendes Wirtschaftswachstum nicht mehr mit diesen Zielen zusammen. Die aktive Rolle von Staaten wurde immer stärker hinterfragt und angegriffen, sie sollten eine passivere Rolle in der Wirtschaft einnehmen. Das Zeitalter des Neoliberalismus brach an und mit ihm, neue Leitziele der Wirtschaftspolitik mit sich: Stabile Preise und ein ausgeglichenes Budget (Guger et al., 2006, S. 5f).

Die Intention dieser neuen Leitziele war, dass Nationalstaaten Kompetenzen an den Markt abgeben, und selbst in den Hintergrund treten sollten. Eine oft vertretene Meinung ist, dass die Rolle von Staaten in Folge dieser Veränderten Leitziele tatsächlich geschwächt worden ist. Argumentiert wird, dass durch die Deregulierung von Finanz- und Gütermärkten die makroökonomische Einflussnahme von Staaten untergraben wurde (Mann, 1997, S. 473).

Obwohl diese Argumentation auf den ersten Blick verständlich ist, fällt es Wissenschaftler/-innen schwer zu belegen, dass Nationalstaaten geschwächt worden sind und eine kleinere Rolle in der Wirtschaft spielen. Unbestritten ist jedoch, dass sich die Rolle von Staaten in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Dabei ist für mich der essentielle Punkt, dass diese Veränderung durch politische Prozesse von Staaten selbst eingeleitet worden ist. Es war die bewusste Übernahme und Implementierung einer neuen Art des Denkens, darüber wie die Rolle von Nationalstaaten in der Wirtschaft auszusehen hat (Heires und Nölke, 2011, S. 37).

Wirft man einen Blick auf makroökonomische Eckdaten liefern diese keinesfalls das Bild eines machtlosen Staates. Ein Indikator für die Macht von Nationalstaaten kann an der Fähigkeit festgemacht werden Steuern einzunehmen. Der Anteil an Staatseinnahmen abzüglich der Nettozinszahlungen liefert ein klares Bild: Die Staatseinnahmen als Anteil am BIP sind am Beispiel von Österreich konstant geblieben (Fellner und Grisold, 2010, S. 74f). Um das im Angesicht eines anteilsmäßig an der Gesamtwirtschaft wachsenden Finanzsektors zu bewerkstelligen, mussten Nationalstaaten ihre Steuerbasis sogar erweitern, was ihnen auch gelungen ist, wobei der Finanzsektor von dieser Erweiterung ausgespart worden ist (Weiss, 2005, S. 352).

Auf der einen Seite haben also Nationalstaaten durch die Deregulierung und auch Nicht-besteuerung von Finanzmärkten bewusst darauf verzichtet in diese einzugreifen. Hand in Hand damit ging jedoch die Ausweitung der Kontrolle über die Mobilität von Personen. Abgesehen von der EU wo die Personenmobilität zunahm, sind Migrationsgesetze in vielen Teilen der Welt deutlich strikter als die Gesetze welche die Mobilität von Kapital einschränken (Wolf, 2001, S. 184). Es ist bei weitem einfacher den Fluss von Personen zu regulieren und zu besteuern als den von Finanzströmen, obwohl es hier an politischem Willen mangelt und meiner Meinung nach nicht etwa der technischen Umsetzbarkeit.

Das Auseinandergehen des Finanzsektors und der Realwirtschaft bringt Nationalstaaten in eine spannende Position. Der Löwenanteil von Steuern wird über die Besteuerung von Einkommen lukriert. Langsam aber sicher sind die Grenzen der Belastbarkeit dieser erreicht, da der Anteil von Lohneinkommen am BIP abnimmt.

Nun stellt sich aber die Frage, wie lang dieser eingeschlagene Weg (Einkommen als Steuerbasis, deregulierte Finanz- und Güterströme) noch tragfähig ist. Zwar waren Staaten in der Lage ihre Steuerbasis auszubauen jedoch wird es notwendig vermehrt Steuern aus dem Finanzsektor zu generieren, um die strukturelle Veränderung der Wirtschaft auch im Steuersystem zu reflektieren.

Auch in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage des politischen Willens: Finanzströme wurden liberalisiert und sind auch deshalb deutlich mobiler als reale Güter, Dienstleistungen und Personen. Es fehlt meiner Meinung nach nicht an den Werkzeugen um die Mobilität von Finanzkapital einzudämmen. Woran es mangelt, ist der Wille Werkzeuge zu implementieren, welche die Mobilität von Finanzkapital wieder einschränken. Dies hat sich bei der mittlerweile abgeebbten Diskussion über Finanztransaktionssteuern gezeigt. Um eine Finanztransaktionssteuer zu implementieren, ist ein hoher Grad an internationaler Koordination gefragt. Aus Angst, dass Kapital aus dem eigenen Land abfließt und nicht für Investitionen zur Verfügung steht, möchte kein Land der Welt diesen Schritt alleine wagen. Es wäre aber auch töricht zu glauben, dass der über Jahrzehnte gewachsene Finanzsektor mittlerweile nicht einen großen Einfluss auf die Realwirtschaft und Politik hat. Institutionen des Finanzsektors betreiben Lobbying um Finanzströme weiterhin unreguliert und unbesteuert zu lassen.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass Nationalstaaten in Bereichen wie der Kontrolle und Regulierung von Finanzströmen bewusst die Zügel abgegeben und diesen Machtverlust im Gegenzug in Bereichen wie der Kontrolle und Besteuerung von Personen ausgebaut haben. Nationalstaaten sind für den institutionellen Rahmen in welchem Wirtschaft passiert zuständig und unabhängig davon, ob der Fokus auf der Real- oder Finanzwirtschaft liegt, nehmen sie die essentielle Rolle ein die Rahmenbedingungen instand zu halten. Um dies zu bewerkstelligen, ist ein starker Staat notwendig (sei es bloß um Eigentumsrechte zu gewährleisten). Deshalb ist es trotz der Intention Nationalstaaten eine kleinere Rolle in der Wirtschaft zukommen zu lassen nicht gelungen dies zu bewerkstelligen. So wie die Ölpreisschocks und stagnierendes Wachstum in den 1970ern eine Reaktion forderten und über 40 Jahre das Wirtschaftssystem verändert haben, sind es nun die steigende Arbeitslosigkeit und die alternde Gesellschaftsstruktur welche auf Antworten warten.
Ich bin gespannt, welche es sein werden.

 

 

Literatur

Dore, Ronald, “Financialization of the global economy,” Industrial and Corporate Change, April 2008, 17 (6), 1097-1112.

Fellner, Wolfgang und Andrea Grisold, „Neoliberalismus und die Krise des Sozialen: das Beispiel Österreich,“ Böhlau Verlag Wien, 2010.

Guger, Alois, Markus Marterbauer, und Ewald Walterskirchen, „Zur Aktualität der Politischen Ökonomie von Josef Steindl,“ 2006.

Heires, Marcel und Andreas Nölke, „Finanzkrise und Finanzialisierung,“ in „Die Internationale Politische Ökonomie der Weltfinanzkrise,“ Springer, 2011, 37-52.

Mann, Michael, “Has globalization ended the rise and rise of the nationstate?,” Review of international political economy, 1997, 4 (3), 472-496.

Weiss, Linda, “The state-augmenting effects of globalisation,” New Political Economy, 2005, 10 (3), 345-353.

Wolf, Martin, “Will the nation-state survive globalization?,” Foreign Affairs, 2001, 80, 178-190.

 

David Cserjan studiert Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und organisiert die Wirtschaftspolitische Akademie mit.


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