Sozialer Wohnbau

Zwischen gesellschaftlicher Durchmischung und sozialer Ausgrenzung

7.12.2018, es wird ruhig um die Neulerchenfelder Straße 35 im 16. Wiener Gemeindebezirk. Mehr als 100 Polizist_Innen, ein Räumpanzer, ein Hubschrauber und ein Feuerwehrkran waren im Einsatz, um die 17 Hausbesetzer_Innen aus der „Nele“ zu räumen [1]. Das Gebäude, früher Heimat der revolutionär – marxistischen REMA – Print, steht nun wieder leer und dem Finanzmarkt für Spekulationen zur Verfügung, die Kapitalinteressen haben gesiegt.

Doch was steckt eigentlich hinter dieser Hausbesetzung? Laut der Wiener Tafel gibt es in Wien rund 8.000 Menschen, die als permanent obdachlos gelten. Demgegenüber stehen etwa 10.000 leerstehenden Wohneinheiten, reserviert für Spekulationen am Finanzmarkt. Dazu kommen die Folgen der schleichenden Gentrifizierung, sowie fehlende Mietobergrenzen.

Wir schreiben somit das Jahr 2019 und verzeichnen wesentliche Nöte betreffend der Wohnsituation der in Wien lebenden Menschen. Die einstige Vorzeigestadt auf dem Gebiet des sozialen Wohnbaus entfernt von ihren Grundpfeilern. Doch was sind diese und wie wurde Wien einst überhaupt zu einer Vorzeigestadt?

Der Wiener Gemeindebau

Grundsätzlich unterscheidet man in Wien zwischen zwei Typen sozialen Wohnbaus. Der Gemeindebau, dessen Eigentümerin die Stadt Wien ist, und Genossenschaftsbauten, die zwar von der Stadt Wien finanziert sind, sich aber dennoch im Eigentum von Genossenschaften befinden. Wohnraum für alle Menschen zu schaffen, unabhängig von sozialer Herkunft, Einkommen und gesellschaftlichem Status, das war das Ziel des damals sozialistischen Wiens und der Ansporn für eine jahrzehntelang anhaltende Wohnbaupolitik.

Noch während der Habsburger Monarchie begannen die Sozialist_Innen mit dem Bau von Gemeindebauten. An die 200.000 Wohneinheiten wurden damals aus dem Boden gestampft. Mussten sich 1880 noch 8,2 Personen eine Wohneinheit teilen, so reduzierte sich die Quote bis 1930 auf 3,2 Personen pro Einheit [2]. Mietobergrenzen garantierten damals einen langfristig leistbaren Wohnraum, zusätzlich bekamen Mieter_Innen eine gestärkte rechtliche Position.

In den 80er Jahren kam es zu wesentlichen Reformen betreffend der Wohnungsmarktregelungen. Während man bisher einen Mietvertrag auf unbestimmte Dauer abschloss, ermöglichten diese Reformen die Festlegung genau bestimmte Mietdauern als Vertragsbestandteil. Den Mieter_Innen muss jedoch eine Mindestmietdauer von 3 Jahren zugestanden werden. Ein weiterer Reformbestandteil war die Einführung von Lagezuschlägen.

Betrachtet man den Wiener Wohnungsmarkt im Allgemeinen, hat die Geschichte der Gemeindebauten bis heute einen prägenden Charakter. Gemeindebauten stellen in Wien 23% des gesamten Wohnungsmarktes. Bezieht man auch Genossenschaftswohnungen mit ein, so steigt der Anteil des sozialen Wohnbaus auf 47% [2].
Trotzdem werden kaum noch neue Gemeindebauten errichtet, u. a. wegen rechtlichen Voraussetzungen. So muss beispielsweise eine bestimmte Quadratmeterpreisgrenze für den Baugrund eingehalten werden. Da diese Grenze bei ihrer Einführung mit einem Absolutbetrag beziffert wurde, welcher in keiner Relation mehr zur heutigen Grundpreissituation steht, erweisen sich neue Investitionen als schwierig.

Wien vs. Los Angeles

Trotz stockendem Ausbau der Gemeindebauten und der zunehmend damit verbundenen Finanzmarktspekulation, hat der soziale Wohnbau in Wien im Vergleich mit anderen Städten einen dennoch großen Stellwert. 24 Prozent der Einwohner_Innen Los Angeles gelten als obdachlos [3]. Grund dafür ist ein sich ganz klar vom Wiener System unterscheidendes Wohlfahrtssystem. Die USA als Vertreter des liberalen Wohlfahrtsregimes setzen stärker auf Marktmechanismen als staatliche Eingriffe.

Im Gegensatz zu Wien verfügt Los Angeles nicht über einen geteilten Wohnungsmarkt. Sozialer Wohnbau stellt nur 1% des gesamten Wohnungsmarktes dar und spielt daher eine marginale Rolle auf einem sich mit inflationären Mietpreisen überbietenden Wohnungsmarkt.
Der Anspruch eines liberalen Wohlfahrtsregimes liegt nicht darin, einen universellen Charakter zu vertreten. Vielmehr sind die unteren und vor allem die untersten Einkommensschichten die Zielgruppe. Strikte Kriterien definieren, wer zu diesen Gruppen zählt und somit Anspruch auf eine Sozialwohnung hat.

Während Wien es sich zum Ziel gemacht hat, mit dem Gemeindebau die soziale Durchmischung zu fördern, wählte man in Los Angeles bewusst einen anderen Weg. Segregation der Einkommensschwachen und deren Isolation ist die Folge dieser Politik, wie folgender Vergleich zeigt.

Abbildung 1: Verteilung des sozialen Wohnbaus in Los Angeles (links) und Wien (rechts)

Welche sozialstaatliche Idee dem Wohnbausystem zugrunde liegt, und wie sie umgesetzt wird, beeinflusst daher maßgeblich die heutigen Unterschiede in der Stadtentwicklung. Doch die Ausprägung des Sozialstaats allein reicht nicht für die Erklärung der Differenzen.

Ob unbewusst, oder auch nicht, die Idee der sozialen Durchmischung innerhalb des sozialen Wohnbaus in Wien kann durchaus als vorbeugende Maßnahme gegenüber Vorurteilen gesehen werden. Im Alltag wird der Gemeindebau hochgehalten und als Errungenschaft der Stadt Wien geehrt. So spricht man gerne vom „Roten Wien“.

Die Watts Riots in Los Angeles hingegen wurden zum Symbolbild des Sozialbaus innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Als Folge einer rassistisch motivierten Verkehrskontrolle wurden Teile Los Angeleses für mehrere Tage lahmgelegt [4].

Watts, ein Stadtteil von Los Angeles, gilt als so genannte No-Go Area. Von den über 90.000 Personen, die in dieser Siedlung leben, haben ca. 13.000 Personen keinen Pflichtschulabschluss [5], Kriminalität steht an der Tagesordnung.

Stigmatisierung als Teil des Problems ist für Los Angeles gleichwenig zu leugnen wie fehlende Maßnahmen zur sozialen Absicherung der Bevölkerung. Die Kombination der Beiden führt jedoch zu einer fatalen Situation der Betroffenen, nämlich systematischer Ausgrenzung.
Vom alltäglichen Leben isoliert in No-Go Areas, von der Gesellschaft verstoßen, als kriminell gebrandmarkt – das ist die Ausgangslage der Einkommensschwächsten. Von Chancengleichheit und Reintegration in den Arbeitsmarkt fehlt jede Spur.

Aus diesem Vergleich geht Wien somit weiterhin als Sieger hervor, was nicht heißen soll, dass Wien das Maß aller Dinge ist. Während die gesellschaftliche Integration der Bewohner_Innen sozialer Wohnbaueinheiten überdurchschnittlich gut funktioniert, so sieht sich Wien dennoch mit Problemen der Gentrifizierung und Finanzmarktspekulationen konfrontiert.

Der Wiener Wohnungsmarkt heute

So war es das Ziel der Aktivist_Innen der Hausbesetzung auf folgende Missstände hinzuweisen: Finanzmarktspekulationen verringern weiterhin das Angebot des Wiener Wohnungsmarktes und treiben Mietpreise in die Höhe: Vor allem Mieten für 1-2 Zimmer Wohnungen haben sich im Laufe der letzten 10 Jahre beinahe verdoppelt. Obwohl der durchschnittliche Mietzins momentan noch bei ca. 15€ pro Quadratmeter [6] liegt, findet man kaum noch Einheiten, auf die das tatsächlich zutrifft. Grund dafür ist u.a. die Weitergabe alter Mietverträge, deren Mietzins aus vergangenen Jahrzehnten stammt und folglich den durchschnittlichen Mietzins unter seinem eigentlichen Niveau hält. Die Tendenz zum Privat Hotilarismus durch Wohnungsvermietungen über Plattformen wie Airbnb feuert die Wohnungsknappheit ebenfalls weiter an. Dem gegenüber stehen  8.000 Menschen, die  auf der Straße leben und leistbaren Wohnraum dringend nötig hätten.

Auf Bundesebene gibt es derzeit kaum Bestrebungen Mietpreisobergrenzen einzuführen. Die Stadt Wien jedoch versucht, mit einer neuen Bauordnung den geförderten Wohnbau zu reformieren. Trifft auf die Widmung des Gebäudes die Kategorie „geförderter Wohnbau“ zu, so sind Veräußerungen nur mit Genehmigung der Stadt erlaubt. Zusätzlich dürfen Wohnungen nur im Sinnen des Förderungsrechts weitervermietet werden, was für das Jahr 2018 eine Mietpreisgrenze von 4,87 € pro m² vorsieht [7]. Ohne einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Problematiken, die bei weitem nicht alles umfassen, dürfen wir uns mit Sicherheit noch auf weitere aktionistische Einlagen einstellen.

 

[1] Kurier, 2018. „Nele 35“: So sieht das Haus nach der Besetzung aus. Kurier.

[2] Tabar, M., 2014. A comparative study of public housing in Vienna, Austria and Los Angeles, California. s.l.:s.n.

[3] United States Interagency Council on Homelessnes, 2017. United States Interagency Council on Homelessness. https://www.usich.gov/tools-for-action/map/#fn[]=1500&fn[]=2900&fn[]=6100&fn[]=10100&fn[]=14100&all_types=true&year=2017

[4] Civil Rights Digital Library, 2018. Civil Rights Digital Library. http://crdl.usg.edu/events/watts_riots/?Welcome

[5] Point 2 Homes, 2014. Point 2 Homes. https://www.point2homes.com/US/Neighborhood/CA/Los-Angeles/Watts-Demographics.html

[6] Immopreise.at, 2019. Immopreise.at. https://www.immopreise.at/Wien/Wohnung/Miete

[7] Wien, S., 2018. Stadt Wien. https://www.wien.gv.at/bauen-wohnen/bauordnungsnovelle-gefoerderter-wohnbau.html

Von einem Teilnehmer des 11. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.

 


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