Wirtschaftswunder und Einkommensungleichheiten. Reiche KoreanerInnen und superreiche ChinesInnen?

Jahrzehntelanges, rasantes Wirtschaftswachstum hat die beiden ehemals von extremer Armut geprägten Länder, die Volksrepublik China und die Republik Korea (ab hier China und Korea) zu „Wirtschaftswundern“ verwandelt. Das koreanische Wirtschaftswunder begann im Jahr 1963 und endete 1997 aufgrund der asiatischen Finanzkrise. Das enorme Wirtschaftswachstum in China hingegen hatte seinen Anfang im Jahr 1978 mit der „Reform und Öffnung“ des Landes und endete mit 2010, als die BIP-Wachstumsrate das neue „Normal“ von etwa 6% pro Jahr erreichte. Trotz ähnlicher durchschnittlicher Wachstumsraten von ungefähr jährlichen 7% und einer Dauer von ungefähr 30 Jahren [1] unterscheiden sich die beiden Wirtschaftswunder in einer Hinsicht enorm, nämlich in ihrer Verteilung.

China: Ein noch nie dagewesener Anstieg in der Einkommensungleichheit

Während China eine Volkswirtschaft mit einer weitgehend gleichen Einkommensverteilung zu Beginn der 1980er war, änderte sich dies schlagartig, als die Wirtschaft rasant zu wachsen begann [2]. Der Gini Index des pro Kopf verfügbaren Haushaltseinkommen stieg von einem Wert von 29.8 im Jahr 1981 auf 49.1 im Jahr 2008, als die Ungleichheit ihr größtes Ausmaß erreichte [3]. Die Top 10% der chinesischen Bevölkerung hielten im Jahr 1978 durchschnittlich etwa 27%,  2011 durchschnittlich 42% des Nationaleinkommens  [4]. Deng Xiaoping, der Vater der Reform und Öffnung Chinas beschrieb seine Politik damals mit den Worten „Let some people get rich first“, eine neue Realität der ehemals kommunistischen Ideologie [5].

Korea: Das Paradebeispiel für gleichmäßiges Wirtschaftswachstum

Anders als in China, wird das „Wirtschaftswunder“ Koreas aufgrund seines inklusiven und gleichmäßigen Wachstums hervorgehoben [6]. Der koreanische Gini Index des pro Kopf verfügbaren Haushaltseinkommen betrug 34.4 Mitte der 1960er Jahre und 25.9 (urbanes verfügbares pro-Kopf Haushaltseinkommen) im Jahr 1997, als das Wirtschaftswunder ein Ende nahm [7]. Das enorme und gleichzeitig inklusive Wachstum steht mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen und gezielten Interventionen in Verbindung [8].

Dieser Länderverglich zeigt, dass rasantes Wirtschaftswachstum sowohl von gleichmäßiger, als auch ungleichmäßiger Einkommensverteilung begleitet sein kann. Auch die Tatsache, dass Volkswirtschaften in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung, verschiedene Ausmaße von Ungleichheit aufweisen, zeigt, dass politische Maßnahmen eine bedeutende Rolle für die Einkommensverteilung spielen. Doch wie steht es um Einkommensungleichheiten in China und Korea heute?

Reiche KoreanerInnen und superreiche ChinesInnen

Heute liegt der Gini Index von verfügbarem Haushaltseinkommen pro Kopf in China bei 46.7 (2017). Sehr viel niedriger ist dieser in Korea mit 30.4 (2016). Bei der Betrachtung von Spitzeneinkommen in China und Korea seit der Jahrtausendwende ergibt sich hingegen ein etwas anderes Bild von Einkommensungleichheit. Die untenstehende Graphik verdeutlicht die Entwicklung der Einkommen der Reichen (Top 10%) und Superreichen (Top 1%) als Anteil des Gesamteinkommens in China und Korea seit dem Jahr 2000 bis heute. Hier sticht heraus, dass im Jahr 2015/16 die Top 10% der einkommensstärksten ChinesInnen etwa 41% des Gesamteinkommens hielten, während dieser Anteil mit 43% in Korea sogar noch höher gewesen ist. Wenn man sich hingegen die Top 1% der SpitzenverdienerInnen in China und Korea ansieht, dreht sich dieses Bild erneut um, denn die Top 1% der ChinesInnen verdienen mehr am Gesamteinkommen, als die superreichen KoreanerInnen, nämlich jeweils 14% und 12%. Das zeigt, dass die Verteilung des Einkommens innerhalb des obersten Dezils in China und Korea unterschiedlich ist. Mit anderen Worten, reiche KoreanerInnen verdienen relativ mehr am Gesamteinkommen, als die chinesischen Pendants, die Superreichen in China verdienen jedoch mehr am Gesamteinkommen, als in Korea [9].

Daten: WID.world. Graphik: von der Autorin erstellt. Einkommensdefinition: Pre-tax national household income per adult.

Politische Maßnahmen in China und Korea heute

Zahlreiche Studien belegen, dass hohe Einkommensungleichheiten negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Stabilität, Zufriedenheit, Gesundheit, Kriminalität und Bildung haben können. Außerdem hat die akademische Forschung gezeigt, dass hohe Ungleichheiten in der Gesellschaft mit negativen Folgen auf das Wirtschaftswachstum in Verbindung gebracht werden [10]. Aus diesem Grund ist sowohl die Analyse von Einkommensungleichheit, als auch politische Maßnahmen dieser zu begegnen, von hoher Relevanz. Untersuchungen zeigen, dass Einkommensungleichheiten vor allem durch steigende und gezielt eingesetzte Sozialausgaben, progressive Besteuerung und Arbeitsmarktpolitik (Mindestlöhne, Frauenrechte, Recht auf Gewerkschaftsbildung) reduziert werden können [11]. Welche politischen Maßnahmen unternehmen also die chinesische und koreanische Regierung, um auf den Anstieg der Einkommensungleichheiten zu reagieren?

In den letzten Jahren haben sowohl China als auch Korea erhöhten Einsatz in der Reduktion von Einkommensdisparitäten gezeigt. Beide Regierungen haben eine Einkommenssteuerreform im Jahr 2018 durchgeführt, welche in China geringe Einkommen entlastet und in Korea hohe Einkommen stärker besteuert 12]. Beide Länder haben zudem gesetzliche Mindestlöhne, während dieser in China jedoch auf lokaler Ebene festgelegt wird, ist er in Korea national vereinbart. Somit ist der chinesische Mindestlohn in Peking relativ hoch, verglichen mit anderen Städten in abgelegenen Provinzen Chinas, was wiederum regionale Einkommensungleichheit verstärkt. In Korea wurde der Mindestlohn seit 2017 zudem zwei Mal um je 16% und 11% erhöht [13]. Trotzdem besteht in beiden Ländern im Bereich der Arbeitsmarktpolitik Verbesserungspotential, vor allem im Arbeitsrecht und dessen Umsetzung. Laut Labour Rights Indicators [14] erbringt China hier eine besonders schwache Leistung, unter anderem aufgrund fehlender Streikrechte und dem Recht, Gewerkschaften zu gründen. Auch Korea ist in dieser Hinsicht weit vom europäischen Durchschnitt abgeschlagen. In punkto Sozialausgaben, liegen (mit Ausnahme der Ausgaben für Bildung) zwar beide Länder hinter dem OECD Durchschnitt [15], jedoch wurden in beiden Ländern in den vergangenen zehn Jahren die Sozialleistungen deutlich ausgebaut und somit zunehmend mehr Bereitschaft zur Reduktion von Ungleichheit gezeigt. Beispielsweise unterstützt die chinesische Regierung die Einkommensschwächsten der Bevölkerung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, dem sogenannten Dibao System. In Korea gibt es Sozialleistungen, wie Kinderbeihilfen und Pensionszuschüsse, bei denen die Top 10% oder Top 30% der einkommensstärksten Haushalte gezielt ausgeschlossen werden [16].

Was lehrt uns der Blick nach Ostasien?

Eine Untersuchung von Einkommensungleichheiten in China und Korea zeigt, dass Einkommensungleichheit von Politik und sozialpolitischen Maßnahmen geprägt ist, anstatt eine natürliche Begleiterscheinung des Wirtschaftswachstums zu sein. Das belegen vor allem die sehr unterschiedliche Entwicklung von Einkommensungleichheiten und Wirtschaftswachstum in China und Korea. Während in China zeitgleich mit dem Wachstum auch Einkommensdisparitäten drastisch angestiegen sind, verteilten sich die Wohlstandsgewinne des Wirtschaftswachstums in Korea relativ gleichmäßig auf alle Gesellschaftsschichten. Heute haben beide Regierungen außerdem zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Einkommensungleichheit eingeführt. Speziell die koreanische Regierung unter Moon Jae-in ist im vergangenen Jahr durch Steuerreformen, Mindestlöhne und Sozialausgaben in ihrer Bereitschaft zu einer gleicheren Verteilung des Einkommens in der Gesellschaft hervorgestochen [17].

[1] Naughton, Barry. 2018. The Chinese Economy: Adaptation and Growth. Second edition. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Seite 2-10.

[1] Naughton, Barry. 2018. The Chinese Economy: Adaptation and Growth. Second edition. Cambridge, Massachusetts: MIT Press. Seite 246-47.

[3] Solt, Frederick. 2019. ‘Measuring Income Inequality Across Countries and Over Time: The Standardized World Income Inequality Database SWIID Version 8.0, February 2019’. February 2019. https://fsolt.org/swiid/. Last accessed 15/04/2019.

[4] WID. world, 2019. ‘Data – World Inequality Database’. WID – World Inequality Database. 2019. https://wid.world/data/. Last accessed 15/04/2019

[5] Naughton, Barry. 1993. ‘Deng Xiaoping: The Economist’. The China Quarterly

[6] OECD. 2011. ‘A Framework for Growth and Social Cohesion in Korea’. Paris: OECD Publishing. https://www.oecd.org/korea/48225033.pdf.

[7] Solt, Frederick. 2019. ‘Measuring Income Inequality Across Countries and Over Time: The Standardized World Income Inequality Database SWIID Version 8.0, February 2019’. February 2019. https://fsolt.org/swiid/. Last accessed 15/04/2019.

[8] Jwa, Sung-Hee. 2017. The Rise and Fall of Korea’s Economic Development. New York, NY: Springer Berlin Heidelberg.

[9] WID.world., 2019. ‘Data – World Inequality Database’. WID – World Inequality Database. 2019. https://wid.world/data/. Last accessed 15/04/2019

[10] Acemoglu, Daron, and J.-S. Pischke. 2001. ‘Changes in the Wage Structure, Family Income, and Children’s Education’. European Economic Review 45 (4–6): 890–904.

[11] Lustig, Lustig, Nora. 2015. ‘The Redistributive Impactive of Government Spending on Education and Health Evidence from Thirteen Developing Countries in the Commitment to Equity Project’. 30. Commitment to Equity (CEQ) Working Paper Series. Tulane University, Department of Economics. https://ideas.repec.org/p/tul/ceqwps/30.html.

[12] PWC. 2019. ‘China, People’s Republic of – Taxes on Personal Income’. 2019. http://taxsummaries.pwc.com/uk/taxsummaries/wwts.nsf/ID/Peoples-Republic-of-China-Individual-Taxes-on-personal-income. Last accessed 15/04/2019.

[13] Wageindicator. 2019. ‘China Minimum Wage by Region 2018’. WageIndicator.Org. 2019. https://wageindicator.org/salary/minimum-wage/china-custom. Last accessed 15/04/2019.

[14] The Labour Rights Indicators. 2019. ‘Labour Rights in Law and Practice, Republic of Korea’. 2019. http://labour-rights-indicators.la.psu.edu/. Last accessed 15/04/2019.

[15] National Bureau of STatistics (NBS).[15] 2008. ‘China Statistical Yearbook 2008’. The People’s Republic of China. 2008. http://www.stats.gov.cn/tjsj/ndsj/2008/indexeh.htm. Last accessed 15/04/2019.

[16] Ministry of Health & Welfare. 2019a. ‘News & Welfare Services’. The Government Of the Republic of Korea. 2019. http://www.mohw.go.kr/eng/nw/nw0102vw.jsp?PAR_MENU_ID=1007&MENU_ID=100703&page=1&CONT_SEQ=346986. Last accessed 15/04/2019.

[17] Lawson, Max, and Matthew Martin. 2018. ‘The Commitment to Reducing Inequality Index 2018: A Global Ranking of Governments Based on What They Are Doing to Tackle the Gap between Rich and Poor’. Development Finance International; Oxfam. https://doi.org/10.21201/2018.3415.

Dieser Blogbeitrag ist an meiner Masterarbeit angelehnt („The East Asian (Un)equal Growth Miracle: Analysing Income Inequality in China and Korea“) Universität Wien, Institut für Ostasienwissenschaften, 2019.

Katharina Menz ist Teilnehmerin des 11. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.

Weiterführende Literatur

Brush, Jesse. 2007. ‘Does Income Inequality Lead to More Crime? A Comparison of Cross-Sectional and Time-Series Analyses of United States Counties’. Economics Letters 96 (2): 264–68.

Dynan, Karen E., and Enrichetta Ravina. 2007. ‘Increasing Income Inequality, External Habits, and Self-Reported Happiness’. American Economic Review 97 (2): 226–31.

Jwa, Sung-Hee. 2017. The Rise and Fall of Korea’s Economic Development. New York,
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Martinez-Vazquez, Jorge, Blanca Moreno-Dodson, and Violeta Vulovic. 2012. ‘The Impact of Tax and Expenditure Policies on Income Distribution: Evidence from a Large Panel of Countries’. Andrew Young School of Policy Studies Research Paper Series 12-30. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2188608.

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Wilkinson, Richard, and Kate Pickett. 2011. The Spirit Level: Why Greater Equality Makes Societies Stronger. Bloomsbury Publishing USA.


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