Die Produktion einer Volkswirtschaft ist Ausgangspunkt für eine Vielzahl an ökonomischen, aber auch gesellschaftlichen Analysen und dient unter anderem als wichtige Maßzahl, um Wertschöpfung in einer Volkswirtschaft abzubilden. Als Instrument zur Erfassung und Bewertung dieser Produktion dient gemeinhin die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR), deren Aggregation zum BIP führt, eine der wohl wichtigsten ökonomischen Kennzahlen. Der Report der Kommission rund um Joseph Stiglitz [1]; kritisiert jedoch, dass das BIP in seiner derzeitigen Konzipierung nicht einmal ein geeigneter Indikator für Produktion ist, geschweige denn den Wohlstand einer Volkswirtschaft abbilden kann.
Das BIP und sein blinder Fleck
Diese Kritik fußt unter anderem auf der Nichtberücksichtigung von Haushaltsproduktion. Gemäß dem 3.Person-Kriterium, welches von Magret Ried formuliert wurde, sind alle Tätigkeiten als produktiv anzusehen, für deren Ausführung jemand Dritter bezahlt werden kann [2]. Die Delegation an einen Dritten und die Bezahlung müssen jedoch nur möglich sein, beides muss nicht tatsächlich passieren. Laut Hill [3] werden jene Tätigkeiten als produktiv bezeichnet, welche direkt die Produktion eines Gutes oder einer Dienstleistung bezwecken [3]. Daraus ergibt sich, dass auch vom BIP unberücksichtigte Produktionsprozesse stattfinden, vor allem durch unbezahlte Arbeit in den privaten Haushalten. Dazu gehören Haushaltsinstandhaltungen, Reinigungen oder Reparaturen, Eigenversorgung durch Anbau von Lebensmitteln und deren Verarbeitung, bis hin zu sozialen Tätigkeiten wie Kinderbetreuung und -erziehung oder Pflegetätigkeiten an Kindern oder Älteren [3]. Würde man für all diese Tätigkeiten jemanden bezahlen, so würde das ins BIP miteinfließen – unbezahlt und/oder selbst erledigt fallen sie jedoch unter den Tisch, obwohl es sich um dieselbe Leistung handelt.
Dass dieser nicht unwesentliche Teil der produktiven Tätigkeiten nicht in das allgemein anerkannte Maß für wirtschaftliche Leistung einfließt und daher bei ökonomischen Analysen verschiedenster Art nicht berücksichtigt wird, hat mehrere Auswirkungen. Es bedeutet einerseits, dass nicht nur die hierbei verrichtete Arbeit, sondern auch jene, die diese leisten, weitgehend unbeachtet bleiben. Jene, die also nicht produktiv im Sinne der VGR tätig sind, leisten dieser Definition folgend gar keinen wirtschaftlichen Beitrag. Wird das BIP gar als Wohlstandsindikator herangezogen, so heißt das sogar, dass nur jene Personen etwas zum Wohlstand beitragen, die auch Erwerbsarbeit nachgehen. Der wertschöpfende Aspekt aller anderen Tätigkeiten – so auch jener von unbezahlter Arbeit – wird ignoriert und damit wird auch jenen Personen ihr Beitrag dazu aberkannt, die diese erbringen [4]. Zahlreiche empirische Studien zur Verteilung von Arbeit zeigen, dass es sich dabei vor allem um Frauen handelt [5], [6], [7].
Der starke Fokus auf die Marktproduktion bewirkt also eine ungleiche Berücksichtigung der Geschlechter hinsichtlich ihrer produktiven Leistungen. Daher ist eine Erfassung von Haushaltsproduktion nicht nur für gemeinsame Analysen, sondern auch durch eine Gegenüberstellung beider Produktionsgrößen von großer Bedeutung, da sie ein viel umfassenderes Bild ökonomischer Wertschöpfung liefert. Bei der Entwicklung einer entsprechenden Methode ist darauf zu achten, dass der unterschiedliche Charakter beider Produktionssphären widergespiegelt wird. Ein Sichtbarmachen von unbezahlter Arbeit schafft demnach nicht nur eine vollständigere Dokumentation von Produktion, sondern auch, dass Frauen als ökonomische Akteure präsenter sind. Mehr noch, wenn unbezahlte Arbeit stärker als Teil ökonomischen Handelns begriffen wird, fließt sie unter Umständen auch in eine Vielzahl an ökonomischen Fragestellungen und wirtschaftspolitischen Maßnahmen ein, was dazu führt, dass Frauen nicht nur ihr Anteil an der Produktion der Gesellschaft zugesprochen wird, sondern generell in wirtschaftlichen Belangen stärker zu Geltung kommen.
Alternative durch die Perspektive der Zeitverwendung
Eine Konzentration auf den monetären Wert einer Tätigkeit – auch unter Berücksichtigung der Haushaltsproduktion – bietet zwar die Möglichkeit für eine Vielzahl an Analysen, stößt aber mancherorts auch an ihre Grenzen, besonders wenn es um gesellschaftliche Untersuchungen des Wohlbefindens geht. Zwischenmenschliche Dynamiken spielen gerade in Arbeiten der Haushaltssphäre eine wichtige Rolle. Sie entziehen sich jedoch diesem monetären Bewertungskonzept völlig. Man denke etwa die Betreuungstätigkeiten für Angehörige. Diese können zwar rein praktisch auch auf den Markt ausgelagert und daher monetär bewertet werden, jede zwischenmenschliche Bindung und Zuneigung, welche ebenfalls einfließen und auch verstärkt werden, können so aber nicht abgebildet werden, sind aber oftmals stärker wertstiftend, als jede monetäre Bewertung. Auch persönliche Lernfortschritte und Erfahrungen, die durch die Erbringung von Tätigkeiten gesammelt werden können, bleiben unberücksichtigt [8].
Ein alternativer Ansatz zur Erklärung von Wohlstand wird von Fellner [4] präsentiert. Demnach können sich verschiedene Tätigkeiten durch das Motiv der Ausübung unterscheiden und sowohl Ziel- als auch Prozessnutzen hervorrufen. Bei Tätigkeiten mit reinem Zielnutzen wird der Nutzen allein aus dem Ergebnis dieser Aktivität gezogen. Die damit verbrachte Zeit wird also als unangenehm betrachtet, weshalb diesen Tätigkeiten nicht unnötig in die Länge gezogen werden um möglichst wenig Zeit dafür aufzuwenden – eine effiziente Zeitnutzung ist bedeutend. Am Ende steht zumeist ein Output, dessen Besitz den Nutzen bringt, der materielle Charakter steht also im Vordergrund. Die Idee des Zielnutzens ist daher auch stark mit dem Konzept der Produktion verbunden, bei dem Zeit als reiner Inputfaktor fungiert [4].
Der Prozessnutzen wiederum beschreibt, dass das Ausüben der Tätigkeit nutzenstiftend ist, was dabei erzielt wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Der Prozessnutzen hat im Vergleich zum Zielnutzen einen eher flüchtigen Charakter, da er mit Beendigung der Tätigkeit ebenfalls vorübergeht. Das impliziert auch, dass die verwendete Zeit in diesem Fall keinen Aufwand darstellt, sondern vielmehr notwendiges Mittel zur Nutzenerzielung ist. Es gilt je mehr, desto besser. Als Beispiele für Tätigkeiten mit hohem Prozessnutzen können Musizieren, das Pflegen von sozialen Kontakten, Sport, das Besuchen von Kulturveranstaltungen, aber auch verschiedenste Lerntätigkeiten genannt werden. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass auch Arbeitstätigkeiten Prozessnutzen enthalten, obwohl sie grundsätzlich auf ein Ziel ausgerichtet sind [4].
Was ist Wohlstand
Um diese Frage zu beantworten bedarf es einer eigenen Diskussion, nichtsdestotrotz sei folgendes angemerkt: Will man nun den Wohlstand einer Gesellschaft bemessen, so ist zu beachten, welche Wertigkeit diese Gesellschaft Ziel- bzw. Prozessnutzen beimisst. Für eine rein materialistische Gesellschaft steht der Zielnutzen und damit das Ergebnis von Tätigkeiten – mit anderen Worten Produkte – im Vordergrund. Ein monetärer Wohlstandsindikator wie das BIP – ergänzt durch Erfassungen der Haushaltsproduktion (Anm. der Autorin) – hat in einer solchen Gesellschaft seine Berechtigung. Das BIP als Wohlstandsindikator stößt aber vor allem dort auf seine Grenzen, wenn es darum geht, jenen Nutzen in die Wohlstandsmessung miteinzubeziehen, der an die Person gebunden ist. Der Extremfall einer rein auf Prozessnutzen ausgerichteten Gesellschaft braucht daher ganz andere Instrumente zur Wohlstandmessung. Da Voraussetzung für den Prozessnutzen die Zeitverwendung für eine gewisse Tätigkeit darstellt, lässt sich Wohlstand in diesem Fall gut in Zeiteinheiten bemessen [4].
Da meiner Einschätzung nach unsere Gesellschaft irgendwo dazwischenliegt, ist es wohl auch notwendig, dem BIP andere Wohlstandsindikatoren zur Seite zu stellen. Durch Verbesserung der Produktionserfassung, umfassendere Betrachtung der Lebensqualität und Berücksichtigung der Einflüsse auf die Umwelt soll es gelingen, Wohlstand mehrdimensionaler zu darzustellen, so auch die Botschaft aus dem Stiglitz-Report [1]. In jedem Fall braucht es einen größeren Werkzeugkasten als das BIP allein.
[1] Stiglitz J. E. et al., (2009): Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress
[2] Reid M., (1934): Economics of household production, New York, Wiley and Sons
[3] Hill T.P., (1979): Do-It-Yourself and GDP, Review of Income and Wealth, 25 (1979) 1, S.31-39
[4] Fellner W.J.., (2014): Von der Güter- zur Aktivitätenökonomie – Zeitnutzung und endogene Präferenzen in einem Konsummodell, Springer Fachmedien, Wiesbaden
[5] Baxter J.; Tai T., (2016): Inequalities in Unpaid Work – A Cross-National Comaprison, In: Connerley M.
[6] Miranda V., (2011): Cooking, Caring and Volunteering – Unpaid Work around the World, OECD Social, Employment and Migration Working Papers Nr. 116, Paris
[7] Statistik Austria, (2009): Zeitverwendung 2008/09 – Ein Überblick über geschlechtsspezifische Unterschiede, Wien
[8] Schäfer D., (2004): Unbezahlte Arbeit und Bruttoinlandsprodukt 1992 und 2001 – Neuberechnung des Haushalts-Satellitensystems, Wirtschaft und Statistik 9/2004, S. 960-978
Der Blogbeitrag stellt eine gekürzte und angepasste Version meiner Masterarbeit dar, die ich zum Thema „Ich seh‘, ich seh‘, was du nicht siehst: Der blinde Fleck unbezahlter Arbeit : Möglichkeiten der ökonomischen Berücksichtigung am Beispiel Österreich“
Elisabeth Schappelwein war Teilnehmerin des 10. Jahrgangs der Wirtschaftspolitischen Akademie.